Das hohe C
4. Juni 2020 – Nicht C, wie Corona. Nicht der Orangensaft, nicht die Stimmlage des Tenors und nicht das Vitamin: Ich denke an das C der Christlichdemokratischen Volkspartei der Schweiz. Befindet es sich im freien Fall?
Die heutige CVP hat ihren Ursprung in der katholisch-konservativen Volksbewegung zur Gründungszeit unseres Bundesstaates 1848. «Die Partei» hat sich im Laufe der Zeit bezüglich Zusammensetzung, inhaltlicher Ausrichtung und Namensgebung verändert. Völlig normal.
Ich frage mich, ob „christlich“ mittlerweile zu einem Schimpfwort geworden ist, zu einem einseitig anti-modernen Unwort mit Ausschlusscharakter andersdenkender, -lebender, -fühlender Menschen in heutiger Zeit? Das wäre wohl doch zu kurz gegriffen. Das wird der Realität in ihrer Fülle nicht gerecht. Trotzdem sehen sich nicht wenige Parteimitglieder in den letzten Jahrzehnten immer stärker gezwungen, sich von der normativen Ethik des Lehramtes der katholischen Kirche abzugrenzen, die in gewissen Fragen in Widerspruch zum gesellschaftlichen Konsens steht. Dieselbe Auseinandersetzung findet innerhalb der Kath. Kirche statt. Die einen halten an der Vergangenheit als der ewigen Wahrheit fest, die anderen erkennen im C die überzeitliche Werte und Prinzipien, die es zu bewahren und in die heutige Gegenwart und Kultur zu übersetzen gilt.
Die Frage, ob Religion und Spiritualität politisch sein soll und darf gehört auch zu dieser Debatte. Sie ist nicht neu. Der «neuen politischen Theologie» (J. B. Metz) geht es darum, die Glaubens-Praxis im Alltag zum Anwalt der Hoffnung und der Veränderung werden zu lassen. Eine Spiritualität ohne Wirksamkeit im Alltag wäre nicht evangeliumsgemäss. Der Zusammenhang von Religion, Spiritualität und Politik ist ein Kernstück christlicher Weltverantwortung. Dabei ist es überhaupt nicht zwingend, das C in den Mund zu nehmen. Nein. Die christliche Sozialethik zielt primär auf die Verwirklichung von Gerechtigkeit, auf Befreiung der «Unterdrückten», letztlich auf die Humanisierung der Lebensbedingungen aller. Dieses Verständnis von christlicher Inkulturation ins Jahr 2020 ist durchaus anschlussfähig für Kirchenmitglieder genauso wie für Reformierte, Kirchenferne, Humanisten, Atheisten und Andersgläubige – sofern diese Prinzipien in ein zielorientiertes Parteiprogramm eingegossen werden.
In Coronazeiten setzt sich die Gesellschaft gezwungenermassen mit dem Menschenbild auseinander, mit der Würde des Einzelnen innerhalb des Kollektivs: Auf welche Werte bezieht sich der heutige Mensch? Werte sind die Grundlage jeden Parteiprogrammes.
Ist es nun zielführender, das Kind mit dem Bad auszuschütten oder aber die heutigen politischen Inhalte aufgrund ihrer überpersonalen, gesellschaftstragenden Werte in die heutige Zeit zu übersetzen?
Komplexe Lösungen brauchen Zeit und Sachverstand, binden alle Argumente und Kräfte mit ein und versuchen die Güterabwägung: Diese Mittepartei politisiert auf dem Boden christlicher Werte. Diese eher stillen Schaffer erarbeiten oft die entscheidende Lösung. Das tuen auch andere, natürlich! Vielleicht könnte genau das aber wieder neu zum Proprium der CVP werden in zeitgemässer Auflage: Kann sie zum Vorbild in der Umsetzung christliche Werte der ausgleichenden Mitte werden, die sich sachorientiert zum Wohl von Individuum, Gesellschaft, nachhaltiger Wirtschaft und intakter Umwelt mit Partnern verbindet? Sie schafft es, innovative Lösungen quer über die Parteigrenzen hinaus zu erwirken. Einfach, weil es nicht ums machtpolitische Pokern und Gewinnen geht. Sondern um ein Miteinander und Füreinander. Einfach, weil schon Corona gezeigt hat, dass innovative, neue Denkweisen möglich sind. Und ja, auch Muslime in der Schweiz finden hier ihren Platz – warum denn nicht, um Himmels Willen?
Ist das alles eine naive Träumerei? Es ist zweifellos ein herausfordernder Weg. Polemische schwarz-weiss Lösungen führen uns sicher nicht in eine gute Zukunft. Die Gegenwart ist komplexer, denn je und verlangt nach einem Thinking out oft the box, das dem Zeitgeschehen Rechnung trägt und einen politischen Ton anschlägt, der anständig ist und deshalb Durchsetzungskraft besitzt: Wie wäre es denn, wenn man das C neu als Garantin für abwägende Ethik und Fairness verstünde, für verantwortetes Arbeiten im Dienst an der Gesellschaft wider jedes spaltende Machtgebaren? Ich glaube, die CVP mit abgestaubtem C wäre nicht von gestern, sondern mehr als gefragt, positiv verstanden «modern» mit Weitblick und Tiefgang, zukunftsfähig!
Alles in allem: Um die Wertediskussion in Gesellschaft, Staat und Kirche kommen wir nicht herum: Konfessionslos oder säkular können Menschen sein, neutral jedoch sind sie nie.
Kann ein Vergleich aus der Musik herangezogen werden? Wenn das hohe C ertönt, spielen die Emotionen verrückt, denn dieser Ton gilt als grosse Herausforderung für jeden Tenor. Wir werden sehen, ob es gelingt, das C neu zu interpretieren oder ob es als Druckerschwärze auf dem Notenpapier stehen bleibt.
Tatjana C. Disteli